Der einzige Riemenantrieb, der es in den Rundfunk und die Studios schaffte
#1
Lang ist es her. Damals gab es die Bezeichnung HiFi noch gar nicht, Stereoanlagen im heimischen Bereich gab es auch noch nicht sondern Rundfunkempfänger und später dann Musiktruhen, das Braunbuch des NWDR definierte den Aufnahme- und Wiedergabestandard für die gesamte Branche und man orientierte sich sogar weltweit daran bzw. einigte sich auf weltweite Standards zur Technik. Der BBC zog mit der Erstellung eines Pflichten- und Lastenheftes gleich, die Recording Industry Association of America versuchte zuerst den Speed-Streit und danach den Recording Ban durchzustehen, um dann in 1958 quasi erstmals verbindend die einheitliche Normung der Schneidkennlinie (RIAA) durchzusetzen.

Plattenspieler für das elektrische Nadeltonverfahren, welche gut genug für den Rundfunk befunden wurden und damit höchsten technischen Anforderungen genügen mußten, hatten damals Reibräder, kamen von Pierre Clement, Schlumberger, EMT, Garrard, Russco, Gates, Collins, Rek o Kut, Presto, Colaro oder auch Fairchild, General Electric oder RCA. manche davon waren weltweit andere nur regional vertreten.

Da war es dann schon eine kleine Sensation, als 1958 der Fairchild 412 die Rundfunkweihe in den Staaten erhielt und als erster und einziger Riementriebler fortan den Radiohörer bespaßen durfte. 

Warum das eine Sensation darstellt? Nun die Lasten- und Pflichtenhefte aller Rundfunkschaffenden rund um den Globus definierten sehr grundsätzlich und bindend eine ganz wichtige Prämisse: Alle Geräte mussten gänzlich ohne Qualitätsverlust und ohne dass der Zuhörer das an den Endgeräten hätte merken können innert Sekunden und ohne zusätzliche Umbau- oder Justagearbeiten untereinander austauschbar sein. Das bedeutete im Klartext, dass ein Verstärker, ein Plattenspieler, ein Tonbandgerät oder Tonabnehmer ebenso wie jedes verwendete Kabel oder Mischpult sofern im Betrieb defekt gegangen durch ein anderes aus dem Studioraum und egal von welchem Hersteller es gefertigt wurde oder wie lange es dort schon rumstand ersetzt hat werden können müssen, ohne, dass dieser Wechsel des Gerätes für Außenstehende überhaupt feststellbar (aka hörbar) gewesen wäre. 

Das nur kurz als Zwischenruf zu "Kabel oder Verstärker klingen" und "aber ich hör´s doch".  No na ned, Ihr Esoterik-Punscherl Big Grin

Der Rundfunkstandard war damals und war auch noch in den 90ern immer der technische Maßstab an dem sich das spätere und moderne HiFi-Geraffel haben immer messen lassen müssen. Obiges ist aber auch eine echte Ansage, denn über die dargestellte Eingangsvoraussetzung definiert sich, dass ein Fairchild 412 ohne dass es von außen hörbar oder messbar gewesen wäre gegen einen EMT 927 oder einen Schlumberger oder einen Gates CB77 hat ausgetauscht werden können und dieser Riementriebler den gleichen Drive und Punch wie ein Garrad 301 oder 401 produzieren können muß(te). Wohlgemerkt wird das ja in der Szene immer vehement bezweifelt.

Nun, dieser 412 tauchte mit nichtssagende Bilder bei eBay USA auf, ich gab das siegreiche Gebot ab und gestern hat er seinen aufregenden Weg über den großen Teich zu Ende geschippert. Das kam hier an

   

   

Der Teller ist teilweise ausgegossen und das scheint original so zu sein. Für einen Riementriebler ist das schon ganz schön schwer

   

Der Motor stammt von Papst und es ist einer der ruhiglaufenden und äußerst präzisen Außenläufer, bei denen sich der äußere Käfig nebst Stator um den festen Rotor dreht. Der Capstanmotor der A77 z.B. arbeitet nach dem selben Prinzip und stammt mWn auch von Papst.

   

Hach, da ist ja unten und oben ein Riemen und unten sogar noch ein zusätzliches Schwungrad

   

   

Und das ganze sitzt in einem Exzenter, so daß die Riemenspannung und darüber auch die Drehzahl einzustellen ist.

   

Da ist ja auch der zweite und deutlich längere Riemen sowie die Motorhalterrungen und wahlweise zwei unterschiedliche Kugeln für das Axiallager im Tellerlager

   

Das hier ist die Version für nur 33 U/ Min, es gab aber noch eine Version für 2 Geschwindigkeiten und eine Version für 4 Geschwindigkeiten. Übrigens fing es dann auch ab ca. 1958 mit dem HiFi-Geraffel im heimischen Umfeld langsam an. In den USA war damals schon der Begriff des HiFi-Händlers geboren.

   

Die Besonderheit dabei ist, dass das nicht mechanisch sondern durch ein vorgeschaltetes Röhrennetzteil mit einstellbarer Frequenz erfolgt.

(29.01.22, 21:17)Don_Camillo schrieb: Hach, da ist ja unten und oben ein Riemen und unten sogar noch ein zusätzliches Schwungrad

Das ist dann wohl auch ein technisches Merkmal dafür, dass der Fairchild 412 Drive und Punch wie ein Reibradler aufweist.


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#2
Don_Camillo schrieb: schrieb:Hach, da ist ja unten und oben ein Riemen und unten sogar noch ein zusätzliches Schwungrad

Das ist dann wohl auch ein technisches Merkmal dafür, dass der Fairchild 412 Drive und Punch wie ein Reibradler aufweist.


Ja und nein.. 
Das ist ganz einfach Antriebstechnik aus dem Maschinenbau.. 
Hier wird das toxische Übersetzungsverhältnis entschärft. Kein Maschinenbauer würde jemals ein Übersetzungsverhältnis wie bei einem normalen Riemengetriebenen Plattenspieler wählen.. 
Aber ja, das deutlich bessere Übersetzungsverhältnis ist der Grund für das schnelle hochfahren, welches im Rundfunk unerlässlich ist.. 
Wählt man das Übersetzungsverhältnis zu groß können keine größeren Drehmomente übertragen werden..
Manchmal, wenn ich ein bisschen neben mir stehe und gucke, was ich da so mache, muss ich plötzlich grinsen. Und dann lachen wir beide.  Big Grin
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#3
Punch und Drive kommt ja vom Drehmoment. Es dürfte auch gleichzeitig und ganz nebenbei den sonst bei jedem Riementriebler systemimmanent vorhandenen Dehnungsschlupf aushebeln
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#4
Ich habe mal an einer Drehbank mit Riemenantrieb gearbeitet. Ähnlichkeiten sind da durchaus vorhanden Wink
Gruß

Jan


Hifi ist zu 40% Klang und 40% Optik. Der Rest sind Vorlieben.

Dreher im aktiven Einsatz:
JVC QL-Y55F, SABA PSP 910, Technics SL-1300, Hitachi PS-58

Abzugeben:
Sharp Optonica RP-5100, Luxman PD-284, Sonab OA5, SABA 60L

ToDos:
Dual: 1019, Dual 1219, Revox B795, Sony PS 5550, Technics SL-Q 33
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#5
Dieses faire Kind hätte übrigens, obwohl Riemenantrieb bei mir definitives Bleiberecht.. 
Glückwunsch zum Kauf Rolf, ist wirklich was besonderes, was es nicht an jeder Ecke gibt..
Manchmal, wenn ich ein bisschen neben mir stehe und gucke, was ich da so mache, muss ich plötzlich grinsen. Und dann lachen wir beide.  Big Grin
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#6
Vielen lieben Dank für die tolle Vorstellung, @"Don_Camillo" !!! Interessant ist, dass ich bei Fairchild an alles mögliche denke - nur auf Plattenspieler wäre ich bei denen nie gekommen. Kennt ihr den Anfang von Peter Gabriels "Sledgehammer"? Das kommt aus einem Fairchild-Synthesizer (mit Lightpen - das Teil war seiner Zeit um mindestens 2 Jahrzehnte voraus). An sowas denke ich bei Fairchild. Und natürlich an Computertechnik... Immerhin: der Plattenspieler scheint mir so innovativ anders zu sein, was Detaillösungen angeht, dass das schon die Fairchild-Gene zeigt, die die Firmen-DNA später ausgemacht hat.
Viele Grüße
Darwin (Thomas)
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#7
(29.01.22, 23:37)Lenni schrieb: ist wirklich was besonderes, was es nicht an jeder Ecke gibt..

Danke für die Blumen, @Lenni. Ja, die Dinger tauchen nicht gerade häufig auf. Ich habe jetzt quasi mehrere Jahre gesucht und abgewartet, bis dann mal einer mit nicht überzogenen Preisvorstellungen und zudem auch noch Versand nach Europa angeboten wurde. Aberwitzig teuer wird es, wenn das Röhrennetzteil dabei ist.

(30.01.22, 1:22)darwin schrieb: Vielen lieben Dank für die tolle Vorstellung, @"Don_Camillo" !!! Interessant ist, dass ich bei Fairchild an alles mögliche denke - nur auf Plattenspieler wäre ich bei denen nie gekommen. Kennt ihr den Anfang von Peter Gabriels "Sledgehammer"? Das kommt aus einem Fairchild-Synthesizer (mit Lightpen - das Teil war seiner Zeit um mindestens 2 Jahrzehnte voraus). An sowas denke ich bei Fairchild. Und natürlich an Computertechnik... Immerhin: der Plattenspieler scheint mir so innovativ anders zu sein, was Detaillösungen angeht, dass das schon die Fairchild-Gene zeigt, die die Firmen-DNA später ausgemacht hat.

Gern geschehen. Fairchild ist übrigens älter als man denkt und war damals schon ziemlich innovativ. Die ersten rumpelreduzierten Direktantriebe kamen mehr oder weniger von Fairchild mit z.B. dem Model 524A1 und wurden dann für General Electric und RCA gefertigt. Mit dem Modell 282 hatte man einen der ganz frühen HiFi-Tonarme, mit dem 225-A eines der auch heute noch absolut besten Mono Tonabnehmer und mit dem Modell 202 einen Tonarm mit drehbarer Revolver-Headshell zur gleichzeitigen Aufnahme von drei ausgewachsenen Tonabnehmern.
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#8
Ich denke bei Fairchild an die A10, das berühmt/berüchtigte "Warzenschwein"... Cool
LG Carsten



Für den ersten Eindruck gibt es kein zweites Mal...
Ecki40 - forever here...
Meine Geräte...? - Egal...

Meine Musik / Überzähliges Vinyl tauschen
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#9
Ich hoffe ja, dass sich der 412 dann nach Revision und Zargenbau auch als der "Donnerkeil" offenbart, der er sein soll und sein musste, um im Rundfunk eingesetzt werden zu dürfen. Fliegen muss er dafür allerdings nicht können nur mit meinem Garrard 401 und EMT 930 gleichziehen  Cool

Die Zarge wird spannend, aber seht selbst wie diese in ihren Eckpunkten dann aussehen muss - das sind also nur Beispiele wie diese Zargen damals aussahen oder Andere sich an den recherchierbaren Bildern und der spärlichen Dokumentation orientierten

   

Wer die Kontur des Plattentellers gesehen hat, der sieht hier, dass die Zarge einen exakt kreisrunden Ausschnitt benötigt, in dem der Teller teilweise "versenkt" wird

   

Der kreisrunde Ausschnitt allein hilft aber noch nicht, weil sonst der obere Riemen nicht um den Teller passt

   
Man benötigt also entweder wie hier zu sehen noch einen Riemenkanal 

   

   

Oder die eine Seite des Ausschnitts hat einen anderen Verlauf - diese hier im Internet gefundene Zeichnung mit Bemaßung muss ich jetzt erst mal querchecken. Danach geht es dann quasi erst los.

   
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#10
@"Don_Camillo"
Sehr schicke Zarge und auch die Schlitzschrauben für die Halterungen! Sehr schön und passend. 
Auch die Aussparung der Zarge für den Riemen. Gut gemacht.

LG
Ingolf
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